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Craftbierszene Polen – Wie ein weißer Fleck auf meiner Bierlandkarte verschwand

Craftbierszene Polen – Wie ein weißer Fleck auf meiner Bierlandkarte verschwand

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Nennt mir mal 5 polnische Biermarken. Na, wie gelingt Euch das? Ich vermute mal stark, dass es Euch damit ähnlich geht wie mir. Zumindest ich bin nicht über 2-3 hinausgekommen. Und das waren dann schon eher die Marken der großen Konzerne, die auch international zu haben sind.

WFDP Weizenbier mit Minze
Weizenbier mit Minze – Unser allererstes Bier am Fest

Aber hat Polen überhaupt auch eine Craft Bier Szene? Wie viele Brauereien gibt es dort überhaupt? Und trinken die Polen überhaupt gerne Bier?

Zumindest bei der letzten Frage war ich mir sehr sicher, dass ich sie mit „Ja!“ würde beantworten können, aber über den Rest wusste ich eigentlich so gar nichts.

Da kam eine Einladung eines Bierfreundes, Tomasz Kopyra aus Polen doch gerade recht. In Wroclaw (Breslau) sollte Anfang Mai die sechste Auflage des „Wrocławsky Festiwal Dobrego Piwa“ stattfinden. Schnell übersetzt das „Breslauer Fest des guten Bieres“. Na das klang doch schon ein wenig nach Craftbieren. Tomasz ist in Polen eine echte Institution, wenn es um Craftbier geht. Er betreibt einen extremst erfolgreich Youtube Channel, ist der polnische Blogger in Sachen Craftbier, braut sensationelle Craftbiere als Collaboration Brews und ist eben auch bei dem Bierfest in Wrocław organisatorisch involviert. Also wenn nicht er, wer dann?

WFDP Impressionen vom Fest
Trotz mehrerer Tauschen Besucher – Gedränge und Schlage stehen war Fehlanzeige

Als ich mich dann aber über die „technischen Daten“ des Festivals informiert habe, da kamen mir schon erste Zweifel, ob ich da wohl richtig aufgehoben sei. Im letzten Jahr zählte man 60.000 Besucher und heuer war die 100.000er Marke angepeilt – daneben war der Veranstaltungsort das für die Euro2012 neu errichtete Zentralstadion in Wrocław. Ein Fußballstadion für ein Bierfest? Na, die Polen wollen es aber genau wissen.

Ich kann Euch aber jetzt schon beruhigen, der Veranstaltungsort hätte kaum besser gewählt werden können, denn zum einen fand das Festival nicht zwischen Mittelkreis und Elfmeterpunkt statt, sondern im Wesentlichen vor und um das Stadion herum. Aber es stand die komplette Infrastruktur zur Verfügung, die wie beim Fußball auch aus Toiletten, Strom und Wasseranschlüssen bestand. Das Festival brauchte sich also nur zu bedienen. Ein echter Traum! Maximal 100m zum nächsten WC, das eben kein Mobilklo war, überhaupt keine Schlangen, meist sauber – einfach genial. Auch wenn die Rahmenbedingungen kaum hätten besser sein können – wie im Fußball – wichtig ist am Ende „auf dem Platz!“ – und das war ja dann wohl das Bier.

WFDP Funky Cherry
Der Name ist farblich und geschmacklich Programm. Eine Lambic Interpretation, die wirklich gelungen ist.

Und davon gab es reichlich. An insgesamt 58 Ständen wurde auf dem Festgelände Craftbier ausgeschenkt. Da auch – wenn auch wenige – Importeure und Händler als Aussteller fungierten, war die Zahl der verfügbaren Brauereien ein Vielfaches davon und die Anzahl der unterschiedlichen Biere entsprechend nochmals höher.

Mit Pilsner Urquell und Guinness waren auch zwei große internationale Brauereien vor Ort, die sich aber eher überraschend unauffällig in das Geschehen am Festgelände eingefügt haben. Der Rest war Craftbier pur – auch wenn ich sicher nicht alle Stände besucht habe – die Qualität der polnischen Biere war weit jenseits von dem was ich erwartet hätte. Voller Kreativität, kompromisslos in Stil und Zutaten und von einer Qualität, die mich in den ersten Stunden meines Besuches sehr sprachlos gemacht hat.

Eines haben aber ein Großteil der Craft-Brauereien gemeinsam: Sie sind erst wenige Jahre alt und der „Braumeister“ hat fast immer vorher als Heimbrauer sein „Handwerk“ gelernt. Meist als Quereinsteiger kam der Weg in die Bierszene aus unterschiedlichen Karrieren, die von Banker bis Universitätsprofessor für Biotechnologie bis hin zu Schlosser reichen und sich schließlich alle im Bierbrauen wiedergefunden haben.

Einige dieser Brauereien, die für mich typische Vertreter der Szene sind, möchte ich Euch in den nächsten Tagen hier im Blog vorstellen.

WFDP Homebrewing Section
Homebrewers Sektion – Geniale Biere

Erwähnenswert ist aber in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen des Festivals auch ein „Homebrewer-Event“ stattgefunden hat, bei dem die Heimbrauerszene ihre Biere den interessierten Gästen präsentieren konnte und sich so direktes Feedback zu ihren Kreationen abholen konnte.

Auch hier war schon zu erkennen, warum die kommerziellen Craft-Brauereien so eine Qualität abliefern können – die Basis, die offensichtlich den „Braumeisternachwuchs“ stellt, stimmt hier einfach schon. Ich habe selten solch eine Ansammlung kreativer Köpfe und Biere gesehen. Und auch wenn ich selbstverständlich kein polnisch spreche, so wurde ich nicht nur einmal an den Stand gerufen ich möge doch mal bitte das Bier kosten.

Diese Basis ist auch notwendig, da es nach meinen Informationen in Polen keine Ausbildungsinstitution für Brauer wie beispielsweise in Deutschland gibt. Und diesen Job erledigt die Heimbrauerszene offensichtlich sehr gut.

WFDP Sachen gibt es ...
Was nicht alles gibt – braucht aber wohl kein Mensch!

In Polen gibt es derzeitig 130 Braustätten und 62 Brewpubs sowie ungefähr 50 Wanderbrauereien. Das bemerkenswerte daran ist, dass einige dieser Wanderbrauereien die Kapazität ihrer Stammbraustätten bis zu 80% auslasten. Also das „Wandern“ im Brauen ist damit schon recht relativ geworden. Und eine vor anderthalb Jahren gegründete Craft-Brauerei, die noch als Wanderbrauer unterwegs sind, bekommt im Sommer ihr eigenes 120hl (!) Sudwerk. Das sind schon kernige Dimensionen.

Von diesen gut 240 Brauereien sind immerhin 65 (davon 25 mit eigenem Braustandort und 40 Wanderbrauer) Brauereien, welche Anforderungen erfüllen, so dass wir sie sehr einvernehmlich als Craftbier Brauereien im engeren Sinne klassifizieren können.

Aber auch in Polen ist der Marktanteil von Craftbier irgendwo bei 1% angesiedelt. Bei einer Bier-Jahresgesamtproduktion des polnischen Marktes von 39 Millionen hl liegen wir – auf die Einwohnerzahl umgelegt – bei einem mit Österreich sehr vergleichbaren Produktionsvolumen. Mit ca.100 Liter pro Kopf Bierkonsum liegt Polen seit Jahren recht stabil an fünfter Stelle weltweit.

Aber zurück zum Fest

WFDP Live Blogging Event
Liveblogging war ein “Speed Dating” mit Brauern

Einen Eintritt zahlt man nicht – lediglich eine Sicherheitskontrolle findet beim Zugang auf das Festgelände statt. Überhaupt ist Sicherheitspersonal immer wieder präsent anwesend. Gerade bei einer solchen Menge an Besuchern, die noch dazu planbar Alkohol trinken, sicher eine gute Maßnahme. Wobei ich sagen muss, dass mir an den drei Festivaltagen niemals auch nur eine aggressive Situation aufgefallen wäre. Ganz im Gegenteil: Wird man erkannt – und das war spätestens nach der ersten Live Blogging Session der Fall – sprechen einen die polnischen Beergeeks an und freuen sich über ein nettes kurzes Gespräch mit dem internationalen Gast über unser Lieblingsthema Nummer Eins. Bier verbindet hier eben auf ganz besondere Weise.

Die eben schon erwähnten Live Blogging Sessions waren nur ein Teil des doch recht umfangreichen Bühnenprogramms. Hier wurden 15 internationale Blogger im Stadion auf der Tribüne in einer Art „Speed Dating“ für jeweils 10 Minuten mit 5 bzw. 6 Brauern zusammengebracht und konnten dann über die von den Brauern mitgebrachten Biere bloggen und die Brauer entsprechend ausfragen. Das ganze wurde im Stadion selbst von Tomasz Kopyra moderiert und auf die Videowall übertragen. Auch für mich war es neu vor knapp 5.000 Zuschauern meine Kostnotizen zu schreiben – aber lustig war es für alle Beteiligten allemal und die Biere wirklich wieder sensationell.

WFDP Talking Craft
Internationales Talk Panel über Craftbierfeste in Europa

Auf einer Talk Bühne fanden über das Fest hinweg immer wieder Diskussionsrunden rund um das Thema Bier statt, Live-Homebrewing, Interviews und Preisverleihungen, leider alles auf Polnisch. Am Samstagabend dann war es soweit und zusammen mit vier Bloggerkollegen aus Wales (Simon Martin), England (Martyn Cornell), Portugal (Gonҫalo Faustino) und Spanien (Joan Villar-i-Martí) habe ich geleitet von Tomasz Kopyra über Craftbierfeste in Europa diskutiert. Es klang ein wenig wie „fishing for compliments“, aber wir waren uns doch sehr einig, dass das Fest in vielen Punkten Maßstäbe für andere europäische Veranstaltungen dieser Art setzt.

Auf einer weiteren Bühne – etwas abseits vom Festgelände – gab es Live Musik von HipHop bis Hardrock. Ich gebe zu, dieser Teil war für mich komplett entbehrlich, da die Musik so laut war, dass man sich in der Nähe der Bühne nur noch schreiend unterhalten konnte. Und schließlich war ich ja wegen des Bieres hier. Also schnell wieder zurück zu den Bierständen.

WFDP Foodbereich mit Beachatmosphäre
Food Truck Court mich Beachatmo

Hunger? Für alle, die noch keine, zu wenig oder schon wieder keine Grundlage für den Bierkonsum im Magen geschaffen hatten gab es noch eine Food Truck Area in der von gefühlten 30 Food Trucks alle möglichen Speisen verkauft wurden. Burger, Fisch, belegte Brote, Würstchen, Salate, Nachos, TexMex Food, Pizza, Asiatisch – egal was man wollte: Es gab einen Truck dafür. Ein unglaublich geniales Konzept, das ich schon in den USA kennengelernt habe und bei dem ich immer wieder bedauere, dass es hier in Wien an den behördlichen Auflagen scheitert, diese Food Trucks wirtschaftlich sinnvoll zu betreiben. Hier könnte Wien sicher ein gutes Stück weltoffener werden.

Am Sonntag war nicht nur das Fest beendet, sondern auch der Besuch in Wroclaw für uns. Wir hatten drei wundervolle Tage in einer Stadt, die 2016 europäische Kulturhauptstadt wird. Alleine das Bierangebot würde aus meiner Sicht schon dafür ausreichen. Ich habe mir fest vorgenommen in Kürze mit dem Importeur meines Vertrauens Kontakt aufzunehmen, um ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen das eine oder andere Bier nach Österreich zu importieren.

Für mich hat sich an diesem Wochenende nicht nur der „weiße Fleck“ über Polen auf der Bierlandkarte aufgelöst – er ist einem sehr strahlenden Schein gewichen. Das Land hat nicht nur Potential – es bringt es national bereits mehr als auf die Straße.

In diesem Sinne sehen wir uns sicher beim „7.Wrocławsky Festiwal Dobrego Piwa“ am ersten Maiwochenende 2016.
Na zdrowie i dzięki za wielką gościnność!